Die ungesagten Worte

Ich weiß, dass meine letzte Stunde gekommen ist, aber ich will nicht gehen.
Es ist viel zu früh.
Ich müsste noch so viel klären. Ich will mit Jürgen und Claudia sprechen.
Aber ich bin zu schwach, um die Worte zu formulieren.
In meinem Leben hatte ich das Gefühl, mich äußerst wortgewandt auszudrücken. Jeder Satz war kunstvoll formuliert und gut durchdacht. Jede Spitze traf dort, wohin ich gezielt hatte.
Aber ich bedaure es sehr, dass ich diesen beiden Menschen nicht mehr die Wahrheit sagen kann.
Ich weiß noch, wie ich Claudia das erste Mal traf. Es war vor 30 Jahren bei einem beruflichen Termin. Als wir uns damals das erste Mal sahen, ahnten wir beide nicht, dass unsere Beziehung mehrere Jahrzehnte überdauern würde.
Durch Höhen und Tiefen bin ich mit ihr gegangen. Sie war eine Konstante in meinem Leben.
Wenn sie in den letzten Tagen an mein Bett trat, sah ich ihren traurigen Blick. Würde sie mich sehr vermissen?
Und Jürgen? Seit seinem ersten Tag auf Erden kenne ich ihn, aber er ist mir bis zum heutigen Tag ein Rätsel.  Sein Blick auf die armselige Gestalt in meinem Bett kann ich nicht deuten. Ist es Zuneigung, Abneigung oder Gleichmut?
Gleichmut wäre mir zuwider. Ich schätze entschiedene Gefühle.
Hass und Abneigung machen mir nichts aus, auch wenn sie gegen mich gerichtet sind. Das ist mir lieber als Gleichmut. Das klingt wie Demut.
Demütig war ich nie. Ich hasse das.
Wie ich das Wort liebe: Hassen.
Wenn ich darüber nachdenke, ob ich je geliebt habe, gerate ich ins Grübeln. Eigentlich weiß ich ganz genau, warum ich so lange nachdenken muss. Niemand war es wert, meine Liebe zu empfangen.
Wenn meine Frau Claudia mich fragte: „Liebst du mich?“, reagierte ich mit einer nichtssagenden Antwort.
Wenn Jürgen mir als Kind die Arme entgegenstreckte und fragte: „Liebst du mich, Papa?“, dann hielt ich ihm statt einer Erwiderung einen Lutscher hin. So bin ich jetzt am Ende meines 80 jährigen Lebens angelangt und würde ihnen so gerne noch etwas sagen: „Ihr seid so erbärmlich, ihr Beiden“, und könnte friedlich einschlafen.

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