Lotto 3

Katrin war ein Einzelkind gewesen. Das war immer ihre Begründung, wenn sie mit ihrem Verhalten unangenehm auffiel. Sie erklärte gern und häufig, dass ihr zwischenmenschliche Verhaltensweisen ab und an fremd waren, An diesem Tag sollte sie damit keinen Erfolg haben. Als sie sich in der langen Schlange von Menschen vorbeidrängelte, die anstanden, um die letzten Karten für die Cezanne Ausstellung zu ergattern.

„Tut mir leid, meine Freundin wartet da vorne.“

Immer wieder fiel ein anderer auf diesen Spruch herein. Bis sie einem jungen Mann auf die Schulter klopfte und begann: „Tut mir leid…“

„Nein, ich werde Sie nicht vorlassen, denn sonst entgeht mir unter Umständen die Eintrittskarte. Sie können sich gerne hinter mir anstellen.“

Katrin hatte bereits den Mund geöffnet für eine Erwiderung, aber schloss ihn lieber wieder. Schließlich meinte sie: „Okay, wissen Sie, ich liebe Cezanne und würde es sehr bedauern, keine Karte mehr zu bekommen.“

„Pech gehabt, ich stehe hier seit zwei Stunden an und habe beobachtet, wie Sie sich immer weiter vorgearbeitet haben. Bei mir ist jedoch Schluss.“

Katrin setzt ihren reumütigen Blick ein, der in diesen Situationen oft den Gesprächspartner weich werden ließ.

„Keinen Hundeblick bitte“, sagte ihr Gegenüber.

„Na gut, Sie haben mich erwischt und was jetzt?“

„Sie können mich unterhalten. Mir ist nämlich langweilig, weil ich gefühlt schon den halben Tag hier stehe und warte.“

Katrin dachte einen Moment nach.

„Meine Großeltern waren bescheidene Menschen. Sie arbeiteten hart, um genug für ihr Leben zu haben. Sie versuchten ihr Glück herauszufordern, indem sie jeden Samstag Lotto spielten. Jeden Freitag ging mein Großvater, der im Übrigen leider ein sehr herrischer Mensch war, zum Kiosk um den Lottoschein abzugeben. An dem alles entscheidenden Freitag gab meine Großmutter den Schein ab, weil mein Großvater krank war. Das Pech war, dass sie sich bei den Zahlen irrte und nicht die Stammzahlen meines Großvaters ankreuzte. Er war sehr wütend und tobte. Am nächsten Tag als die Lottoziehung stattfand, stellte sich jedoch heraus, dass die Zahlen meiner Großmutter den Jackpot geknackt hatten. Meine Großmutter beharrte darauf, dass ihr das Geld allein gehöre. Mein Großvater wollte seinen gerechten Anteil. Ich muss dazu sagen, dass die beiden sich in den letzten Jahren langsam hassen gelernt hatten. Mein Großvater war ein Despot. Meine Großmutter mochte es zwar nicht, wie er sie behandelte, aber lehnt sich auch nicht dagegen auf. Mit dem Lottogewinn über zehn Millionen Euro hatte meine Großmutter endlich das Gefühl, Oberwasser zu bekommen. Ach, sie sind dran mit Karten kaufen.“

„Eine Karte bitte. Erzählen Sie bitte weiter.“

„Moment, eine Karte für mich.“

„Wollen wir zusammen die Ausstellung besuchen?“, fragte ihr Zuhörer.

Katrin hatte keine große Lust, allein herumzustreifen, also sagte sie zu.

„Wie geht es weiter?“ fragte er.

„Meine Großmutter hatte irgendwie keine Lust, das Geld zu teilen. Sie fand, ihr stand die ganze Summe zu. Sie überlegte, was sie tun könnte, aber ihr fiel nichts ein. Also hieß es „in den sauren Apfel beißen“ und teilen. Ihr Mann wurde etwas zugänglicher, seit sie reich waren. Und nach einigen Wochen unternahmen sie eine Reise in die Berge. Das hatten sie sich schon immer gewünscht. Sie unternahmen eine Wanderung. Sie waren beide körperlich topfit, aber auf der Wanderung passierte ein schrecklicher Unfall. Mein Großvater kam vom Weg ab und stürzte einen Abhang hinunter. Er starb sofort. Meine Großmutter war sehr lange sehr traurig. Inzwischen geht es aber wieder ganz gut. Sie ist jetzt seit einem Jahr Witwe und hat einen sehr netten neuen Lebensgefährten.“

0 Kommentare über “Lotto 3

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert