Über den Wolken

karl_72345 besah sich das letzte Mal seine Wohneinheit, die er nun verlassen würde, um sich auf das ultimative Abenteuer einzulassen. Nachdem er vor zwei Jahren in den Medien den Aufruf gehört hatte, wusste er sofort, dass das seine Chance war. Es war die Möglichkeit aus dem tristen Leben auszusteigen und alles hinter sich zu lassen, die frustrierende Arbeit und das langweilige Leben.

In diesen Zeiten blieb dem Durchschnittsbürger nur wenig Raum und das im wörtlichen Sinn.

karl_72345 hatte bereits als junger Erwachsener festgestellt, dass der ihm vorbestimmte Weg nichts für ihn war. Denn das hieß ein Jahr freiwilliger und unbezahlter Dienst für die Gemeinschaft und dann ein mäßig bezahlter Job in der Umwelt- oder Energiebranche. Die spannenden Jobs in der Wissenschaft blieben jenen vorbehalten, die über entsprechende Verbindungen dorthin verfügten.

Seit nunmehr 10 Jahren arbeitete er als Baumbewahrer. Er wachte wie seine Kollegen über den europäischen Restbestand an freiwachsenden Bäumen. Seine Arbeit langweilte ihn entsetzlich, so dass er an der Venuslotterie teilgenommen hatte. Er hatte in den alten Schriften von den Greencard Verlosungen für die damaligen Vereinigten Staaten von Amerika gelesen, wahrscheinlich war das vergleichbar mit der durchgeführten Venuslotterie, bei der die Gewinner die ersten Siedler auf der Venus sein konnten. 

Nach zwei Jahren Vorbereitungszeit war er einer der Glücklichen, welche die Venus bevölkern sollten.

Morgen früh sollte es losgehen. Er hatte sich bereits von allen verabschiedet. Heute Abend ging es mit dem Hochgeschwindigkeitszug von Berlin, welches im deutschen Teil Europas lag, nach Khartum im sudanesischen Teil Afrikas.  Dort sollte das Raumschiff starten.

Er packte seine Habseligkeiten in eine kleine Tasche. Es waren Erinnerungsstücke an seine Eltern und Großeltern, altmodische Fotografien und Zeichnungen, ein Stück Holz von dem Baum, der im Garten der Urgroßeltern gestanden war. Kleidung würde ihm in Khartum ausgehändigt werden. Ganz oben in der Tasche lag ein Zeitungsartikel aus dem Jahr 2020 „Unter den Wolken der Venus“. Dieser Artikel behandelt die Frage, ob der Nachweis eines Stoffs namens Monophosphan in der Venusatmosphäre Beweis für die Existenz von Lebewesen sei.

karl_72345 hatte diesen Artikel entdeckt, als er in alten Schriften recherchiert hatte, um sein Wissen über die Venus zu erweitern. Dieser Planet hatte ihn zeitlebens interessiert. Dass er jetzt die Möglichkeit hatte, dort zu leben, kam einem Wunder gleich.

Im Jahr 2020 wusste man über die Venus noch wenig. An der Oberfläche war es mit 460 Grad Celsius zu heiß, um dort überleben zu können. Die Wolken bestanden aus giftiger Schwefelsäure.

Inzwischen war es für niemanden mehr erstrebenswert, auf der Oberfläche der Venus zu leben, sondern in deren Atmosphäre in fünfzig Kilometer Höhe.

Am nächsten Morgen bestieg karl_72345 mit neunundneunzig weiteren Menschen das Raumschiff Venus IV. Sie würden die Reisezeit von einem Monat gut nutzen und sich noch intensiver auf ihr künftiges Leben vorbereiten.

karl_72345 saß beim Start neben lan_27054 aus dem vietnamesischen Teil Asiens. Auch sie war, wie karl_72345, voller Vorfreude. karl_72345 war froh, dass er viel Zeit darauf verwandt hatte, die gemeinsame Weltsprache zu lernen. Es fiel ihm leicht, mit lan _27054 ins Gespräch zu kommen.

„Freust du dich auch auf den Anblick der Planeten und Monde von der Venus aus?“ fragte lan_27054.

„Ich habe viele alten Schriften gelesen. Ich bin sehr gespannt, wie es in Natura aussieht.“

„Fiel es dir sehr schwer, alles hinter dir zu lassen?“  erkundigte sich lan _27054.  „Mir nicht. Ich freue mich sehr auf die neuen Eindrücke und hoffe auf interessante Begegnungen. Was hast du beruflich gemacht?“

„Ich war Baumbewahrer. Das ist leider kein Beruf, der sich in unserer neuen Lebenssituation ausüben lässt. Ich bin mir sicher, ich finde eine neue spannende Arbeit. Ich weiß zwar nicht, was es sein wird, aber ich freue mich jedenfalls über die neue Aufgabe.“

„Ich war pflegende Medizinerin. Ich bin auch gespannt, welche neue Arbeit auf mich wartet. Erzähl mir von den alten Schriften, das klingt interessant.“

karl_72345 erzählte ihr von Greencards in den USA im 20.Jahrhundert und den Zeitungsartikel über Leben auf der Venus aus dem 21. Jahrhundert.

„Ich habe auch einen Artikel aus dem Jahr 1911 gelesen, wo beschrieben wurde, dass die Venus bewohnbar sei.“

„Wir werden sehen, welche Erkenntnisse uns noch überraschen werden, wenn wir hier direkt in der Venusatmosphäre leben“, meinte lan _27054. „Ich bin so aufgeregt. Vielleicht sind wir diejenigen, die außerirdische Lebensformen hier auf der Venus entdecken. Ein Bekannter war bei der Besiedlung des Mondes dabei und hat ein Jahr dort gelebt. Was er danach erzählt hat, ließ mich noch fester an meinem Traum festhalten, eines Tages in den Weltraum zu fliegen, um dort zu leben. Aber mich hat eigentlich immer nur die Venus interessiert.“

karl_72345 stellte bei diesem Gespräch fest, dass es mindestens einen anderen gleichermaßen begeisterten Venus Fan wie ihn bei diesem Abenteuer gab.

Als das Raumschiff das Ziel erreichte, war karl_72345 trotz der ermüdenden Anreise hellwach und betrachtete fasziniert den Planeten. Als sie durch die Wolken flogen, bot sich der Anblick, von dem er so lange geträumt hatte. Der Feuerring zeichnete sich leuchtend ab. Es war wunderschön.

karl_72345 wusste, dass sich die Anstrengungen und Entbehrungen gelohnt hatten.

Er würde jetzt mindestens 10 Jahre in sogenannten Lebenskapseln leben.  Dass er diese Zeit auf engem Raum mit den anderen Siedlern verbringen würde, war ihm egal.  Er war endlich angekommen. Der Ausblick war das alles wert. Wenn er sich nach links drehte, erblickte er die Erde und rechts den Mond.