„Ein kleiner Flirt, ein paar Blicke, das ist doch nicht schlimm.“
Judith hört Verena jetzt schon mehrere Minuten zu, ohne einen Zusammenhang mit ihrer Frage, die sie ihr gestellt hatte, zu erkennen. Judith hat Verena zufällig in der Fußgängerzone getroffen. Verena hat sie nach 10 Jahren sofort wiedererkannt. Judith wäre einfach an Verena vorbeigelaufen. Aber so sitzen sie nun zusammen in einem Café und Verenas Antwort auf die Frage, wie es ihr geht, ist sehr weitschweifig. Judith hat abgeschaltet, denn Verena spricht über ihre Liebesabenteuer. Das interessiert Judith nicht. Im Gegenteil, sie wünscht sich an einem ganz anderen Ort, vielleicht in den Supermarkt oder in die Küche, um zu putzen. Verena war schon früher sehr mitteilsam gewesen, was ihre amourösen Verwickelungen betraf. Damals wohnten sie Tür an Tür.
Inzwischen lebt Judith seit fünf Jahren glücklich mit ihrem Mann in einem Einfamilienhaus. Ihr Mann arbeitet hart, um das Haus zu finanzieren und Judith versucht ihn zu entlassen, wo es nur geht.
Verena erzählt weiter: „Da traf ich also diesen Traummann beim Bäcker und unsere Blicke trafen sich. Daran ist doch nichts Verwerfliches, oder?“
Verena wartet auf eine Reaktion von Judith. Judith nickt.
Ihre Gedanken schweifen wieder ab. Ihr Mann ist auch ein richtiger Traummann. Seinetwegen ist sie umgezogen und hat ihren gut bezahlten Job aufgegeben, um jetzt in einer kleinen Firma in der Finanzbuchhaltung zu arbeiten. Er ist sehr aufmerksam. Jeden Tag bringt er ihr Blumen und fragt sie, was sie erlebt hat. Und er sieht so gut aus.
„Aber ich sagte zu ihm, wenn du deine Frau verlässt, ist es aus. Ich will keine Verpflichtungen. Ich will doch kein Mann an mir kleben haben.“
Verena scheint wieder eine Reaktion zu erwarten.
„Oh ja, deine Selbstständigkeit war dir immer sehr wichtig.“
„Richtig, deshalb war er auch einverstanden. Es ist so spannend und verrückt. Wir treffen uns inzwischen seit drei Jahren und wir sind so glücklich.“
Judith winkt dem Kellner zu: „Du, ich muss jetzt los.“
Sie will nichts mehr von Verenas Fremdgeherlebnissen hören.
Verena meint: „Ach, das war so schön, dich wieder zu treffen. Das müssen wir bald wiederholen. Ich gebe dir meine Telefonnummer.“
Judith nimmt die Karte und beschließt, diese Nummer niemals anzurufen. Sie verlassen das Café. Verena schwatzt weiter, aber verstummt plötzlich, als sie auf die andere Straßenseite blickt. Judith blickt in dieselbe Richtung.
Dort steht ein Mann. Als dieser sich umdreht, sieht sie sofort den ertappten Blick ihres Ehemannes.
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